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FASD verstehen

FASD verstehen

Ob zu Hause oder in der Schule, in der Gruppe oder in der Therapie. Bei diesem Kind ist es irgendwie anders. Ich wünsche mir von Herzen „meinem“ Kind eine gute Zukunftsperspektive zu bieten. Es hat viele Fähigkeiten und dennoch drehen wir uns im Kreis. Ich gebe alles dafür, ihm die gleichen Möglichkeiten für ein selbstständiges und gutes Leben zu geben, wie meinem leiblichem Kind, den anderen Schüler*innen oder Kindern der Gruppe.
Ein Ziel, das viele Pflege- und Adoptiveltern als auch erfahrene Fachkräfte motiviert. Hierfür geben Sie all ihre Kraft und Motivation. Doch dann kommt alles anders…

Im Folgenden möchten wir anhand familiärer Alltagserfahrungen die Herausforderungen, vor die Sie als Familie und Fachkräfte mit einem Menschen mit FASD gestellt sind, verstehbar machen.

Sie machen die Erfahrung, ...

  • dass Ihr Kind sehr herzlich ist und offenherzig auf jeden zuläuft
  • dass Ihr Kind viele Ideen hat und alles sofort anfangen will
  • dass Ihr Kind eigentlich sehr schlau ist, aber einfache Aufgaben nicht erfüllt
  • dass Ihr Kind ständig die gleichen Fehler macht, obwohl sie es bereits 100-mal erklärt haben
  • dass Ihr Kind immer wieder durch „seltsames“ Verhalten provoziert
  • dass Ihr Kind immer alles SOFORT haben und gehört wissen will, auch wenn es gar nicht passt
  • dass Ihr Kind gar nicht merkt/hört/wahrnimmt was sein Gegenüber möchte und ständig die Grenzen der anderen missachtet
  • dass Ihr Kind immer die Schuld bei anderen sucht und trotz offensichtlicher Tatsachen bei seiner Behauptung/Überzeugung bleibt
  • dass Ihr Kind Sie massiv beleidigt und im nächsten Moment fragt, ob Sie es noch liebhaben
  • dass Ihr Kind am Abend nicht einschläft und nachts mehrfach aufwacht
  • dass Ihr Kind sich nirgends anders aufhält als in ihrer Nähe und nicht mal bereit ist ein paar Stunden die Oma, ohne ihre Anwesenheit zu besuchen
  • dass Sie immer mehr Freunde und Bekannte verlieren und kaum mehr eingeladen werden
  • dass Ihr Kind ohne für Sie ersichtlichen Grund plötzlich ausflippt, rumschreit oder Dinge zerstört. Zum Teil sogar Sachen die ihrem Kind eigentlich wichtig sind
  • dass Ihr Kind sich verweigert seine Haus-Aufgaben zu erledigen und durch nichts zu motivieren ist, endlich anzufangen.
  • dass Ihr Kind bei Androhung von Konsequenzen erst recht zu macht und für Argumente und Erklärungen nicht zugänglich ist
  • dass Ihr Kind trotz aller Bemühungen keine Freunde findet und zu keinen Kindergeburtstagen eingeladen wird
  • dass Ihr Kind sich immer mehr zurückzieht, am Alltag und schönen Dingen nicht mehr teilnehmen will und sogar von lebensmüden Gedanken spricht
  • dass Ihr Kind auch mit 12 immer noch nicht allein zu Hause bleiben kann und Sie rund um die Uhr da sein müssen
    und…
    Vielleicht kommen Ihnen folgende Gedanken:

"Was mache ich falsch? Was soll ich denn noch tun? Ich liebe das Kind doch wie mein eigenes. Bei meinem leiblichen Kind habe ich diese Probleme in keiner Weise. Wie soll es denn nur weiter gehen? In meiner Partnerschaft kommt es schon immer mehr zu Konflikten."

Vielleicht denken Sie auch bereits darüber nach, Ihr Kind wieder abzugeben und Sie fühlen sich am Ende Ihrer Kräfte. Missverstanden von Ihrem direkten Umfeld und als Helikoptereltern oder erziehungsunfähig gesehen. Sie fühlen sich allein gelassen mit Ihren Sorgen und den vielen Herausforderungen in Ihrem Alltag.

Sie sind nicht alleine mit dieser Erfahrung!

Vielen Bezugspersonen geht es wie Ihnen. Sie sind NICHT Schuld!
Sie begleiten ein Kind mit einer schweren, hirnorganischen Beeinträchtigung, dass wie andere Kinder seines Alters alles gut und richtig machen möchte. Ihr Kind will Sie nicht provozieren oder ärgern.

Ihr Kind erbringt vom Aufstehen bis zum Schlafengehen Höchstanstrengungen, um den einfachsten Anforderungen des Alltags gerecht zu werden. Dabei stehen Ihrem Kind die Einschränkungen der exekutiven Funktionen im Weg und es benötigt in allen Situationen ihre wohlwollende Geduld und Unterstützung.

Stellen Sie sich vor, all die für Sie sehr auffälligen Verhaltensweisen sind keine böse Absicht oder Provokation, sondern ein Versuch einer Lösung in völliger Überforderung.

Teufelskreis exekutiver Funktionsstörungen

Ihr Kind nimmt jegliche Situationen des Tages in ganz anderer Form wahr, als Sie selbst. Da ist der Kopf des Kindes voll mit einem Bedürfnis, einer Idee das es gerade jetzt erfüllt/umsetzen will und ihr Kind geht davon aus, dass auch Sie genau das wollen. Ihr Kind hat gar keine Idee, dass Sie etwas anderes denken oder wollen und ist mit dem kleinsten Einwand oder der kleinsten Ablehnung ihrerseits so überfordert, dass es durch Sie nicht mehr erreichbar, in Aggression, Opposition oder Rückzug geht.
Denken Sie immer daran: „Nicht ihr Kind will nicht, sondern ihr Kind kann nicht“

Ihr junger Mensch befindet sich in einem Teufelskreis exekutiver Funktionsstörungen, welche unterschiedlichste Auswirkungen zeigen können. Jede Funktion ist unmittelbar mit der anderen verbunden, so dass sie sich zwingend gegenseitig bedingen.

Wir möchten anhand von Alltagssituationen versuchen, den Teufelskreis schwerer exekutiver Funktionsstörungen bildhaft zu erklären und Erstanregungen für Lösungsansätze anders (er)spüren zu lernen. Diese sind immer individuell weiterzuentwickeln.

Wichtig: FASD ist nicht gleich FASD. Jeder Mensch ist anders und in seinen Bedarfen individuell zu unterstützen. Die dargestellten Beispiele dienen dem besseren Verständnis exekutiver Funktionsstörungen.

Schwere exekutive Funktionsstörungen

Hier und Jetzt

Menschen mit ausgeprägtem FASD sind immer im Augenblick ihres momentanen Bedürfnisses, welches sie kaum mit dem Bedürfnis des Gegenübers abgleichen können. Hierbei ist meist die Idee, dass das Gegenüber dieselben Bedürfnisse/Ideen hat wie die Person selbst. Das dieser anders denken oder fühlen könnte ist in diesem Augenblick nicht vorstellbar.

Zum Beispiel soll ein junger Mensch ins Bett gehen, hat sich bereits die Zähne geputzt und kommt anschließend zu Ihnen und besteht auf einen Kakao. Sie lehnen diesen ab und erklären, dass nun Bettzeit und die Regel ist, dass nach dem Zähneputzen nichts mehr gegessen oder getrunken wird. Der junge Mensch „flippt aus“, besteht auf seinen Kakao und ist nicht zu beruhigen. Für Erklärungen ist der junge Mensch nicht zugänglich. Wichtig: Hier geht es nicht um „sich durchsetzen“ oder „reine Provokation“- sondern der Kopf ist mit einem Bedürfnis voll und kann keine anderen Dinge parallel denken. Er muss erst leer werden, damit Ihre Aussage Platz bekommt. Gehen Sie nun in den Konflikt, um „Chef“ zu bleiben, steigert sich die Eskalationsspirale ggf. ins Unlösbare. Dieses Beispiel können sie auf unterschiedlichste Situationen aus Ihrem Alltag übertragen.

Gedächtnis

Menschen mit Einschränkungen der exekutiven Funktionen können sich immer dann gut an Vergangenes erinnern, wenn diese einen emotionalen Zusammenhang mit sich selbst und/oder bestimmten Situationen haben. Sachinhalte, die nicht im emotionalen Bedürfnis liegen und darüber hinaus, herausfordernde, intellektuelle Anstrengungen erfordern, werden vom Gehirn nur schwer bis unzureichend gespeichert. D.h. das affektive Jetzt verhindert in vielen Fällen die Speicherung von sachbezogenen Inhalten und Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Gespeichert werden in der Regel emotionale Erfahrungen oder Worte, die in Kontakten und Situationen zu Erfolgen geführt haben. So zum Beispiel Schimpfworte, die gehört wurden und bei einem Gegenüber Betroffenheit ausgelöst haben. Diese werden in der Folge häufig gezielt und treffsicher angewandt. Ebenso werden Erfahrungen erinnert, die zur Umsetzung des eigenen Bedürfnisses benötigt werden, während Regeln und Absprachen, die nicht das eigene Bedürfnis decken, vergessen werden. Viele Alltagssituationen und Inhalte, die gerade nicht das Bedürfnis des Menschen mit FASD ansprechen, wirft das Gehirn scheinbar unmittelbar aus dem Gedächtnis. Hier besteht keine Absicht oder böser Wille des Menschen mit FASD, sondern die deutliche Hirnfunktionsstörung, die den Alltag unendlich erschwert.

Reflexion

Das affektive Jetzt bestimmt die Alltagsgestaltung eines Menschen mit FASD und fordert ihn in allen Situationen zu Höchstanstrengungen in der Kommunikation mit seinem Gegenüber. Meist sind die Handlungen vom eigenen Bedürfnis geleitet und werden nur sehr bedingt planerisch vorbereitet. Kommt es nun zu Konflikten mit dem Gegenüber oder ist die Durchführung mit negativen Konsequenzen verbunden, kann der junge Mensch mit FASD manchmal nur sehr schwer sein eigenes Handeln reflektieren. In den meisten Situationen wird das Handeln des jungen Menschen beschrieben, als einerseits „einen Schalter umlegen“ und andererseits, als „zusammenhangloses Agieren“. Zum Beispiel zeigt eine junge Erwachsene ihren Eltern, die auch ihre gesetzlichen Betreuer sind, wegen Unterschlagung von Geldern und massiver Beschimpfungen bei der Polizei an. Die Polizisten suchen die Familie zu Hause auf und stellen diese zur Rede. Circa eine Stunde später kommt die Tochter freudestrahlend nach Hause und sagte der Mutter: „Ich habe dich lieb, trinkst du mit mir einen Kaffee?“ Die Mutter reagiert entsetzt und antwortet: „Wir sind doch böse. Du hast uns angezeigt, und jetzt soll ich mit dir einen Kaffee trinken?“ Die junge Frau antwortet: „Das ist doch was ganz anderes.“ Eine Reflexion und das Gespräch über das Geschehene sind zwischen ihnen in dieser Situation nicht möglich. Während die junge Frau ihr Handeln vergessen und abgehakt hat, bleibt die Familie mit diesem Vorwurf zurück.

Viele dieser Situationen im Alltag belasten die Beziehungen zwischen Menschen mit FASD und ihre Bezugspersonen. Trotz aller Bemühungen ist eine Klärung durch Reflexion schwer möglich und stellt somit eine extreme Herausforderung an die Beziehungsstabilität zwischen allen Beteiligten dar.

Wahrnehmung

Menschen mit FASD haben meist Einschränkungen in allen Wahrnehmungsbereichen.

Hier kurz die Wichtigsten skizziert.

Interaktion und Selbst- und Fremdwahrnehmung:
Erwartungen und Umgang mit anderen Menschen erfolgen bei Menschen mit FASD meist aus dem Blick des eigenen Bedürfnisses. D.h. ein Mensch mit FASD ist in der Regel überzeugt, dass das Gegenüber dieselbe Wahrnehmung und Bedürfnislage hat, wie es selbst. Für den Menschen mit FASD ist klar, dass das Gegenüber weiß, was er möchte, ohne es auszusprechen.

Hören:
In der Hör- bzw. Geräuschwahrnehmung fallen Menschen mit FASD häufig dadurch auf, dass sie sich über Lautstärke anderer, zum Beispiel in der Schulklasse beschweren, während die Mitschüler:innen und Lehrer:innen die Person mit FASD als am lautesten wahrnehmen.

Schmerzen:
Es ist möglich, dass ein Mensch mit FASD in Situationen, in denen er nur leicht berührt wird, massiv schreit und über Schmerzen klagt, in Situationen, in denen er sich jedoch tatsächlich verletzt hat, keinen Schmerz wahrnimmt. So kann es sein, dass ein Mensch mit FASD bis hin zu einem Beinbruch ohne Schmerzwahrnehmung weiterläuft und hier unser besonderes, fürsorgliches Auge benötigt.

Körperwahrnehmung:
Menschen mit FASD nehmen ihren Körper sowie ihre Körpergrenzen oft „anders“ wahr. So kann es sein, dass ihre Wahrnehmung für Wärme und Kälte massiv von der temperaturangemessenen Erwartung abweicht, so dass sie z.B. bei 30 Grad mit Hoody und Jacke unterwegs sind, im Winter hingegen im T-Shirt in die Schule gehen.

Gerade in Überforderungssituationen des Alltags kann es dazu kommen, dass Menschen mit FASD ihren Körper gar nicht mehr spüren und Aussagen treffen wie: „Mein Körperrand fließt weg“ oder „Ich merke meinen Körper nicht“. Außenstehende nehmen dann die Person als „außer sich“ wahr, was sich im Weiteren dann auch in entsprechendem Sozialverhalten zeigen kann.

Ursache und Wirkung

Menschen mit ausgeprägten Einschränkungen der exekutiven Funktionen sind stets bestrebt die Idee, die sie gerade im Kopf haben, auszuprobieren und direkt in die Tat umzusetzen. Hierbei orientieren Sie sich ausschließlich an ihrer Idee und haben die Folgen oder Konsequenzen ihres Handelns nicht im Blick. Im Moment ihrer Idee sind sie mit nichts anderem verbunden, als ihrem affektiven Vorhaben.

Zum Beispiel möchte ein Kind sehen, wie schnell ein Strohballen brennt. Es geht in eine Scheune, zieht einen Strohballen vor und zündet diesen an. In der Folge brennt die Scheune ab und das Kind wird einer Brandstiftung bezichtigt. Das Kind lehnt diese vehement ab und erklärt, nichts damit zu tun zu haben. Es habe schließlich nur den einen Ballen und nicht die Scheune angezündet. Trotz vielfacher Erklärungen und polizeilicher Maßnahmen ist das Kind nicht von seiner Schuld zu überzeugen. Da es nicht in der Lage ist, Ursache und Wirkung miteinander zu verknüpfen und dies in Bezug zum eigenen Vorhaben zu verstehen, bleibt das Kind bei der Überzeugung, dass jemand anderes die Scheune abgebrannt haben muss.

Empathie

Der Blick vom eigenen Bedürfnis auf das Gegenüber und die aktuelle Situation bestimmt die Empathiefähigkeit eines Menschen. Die Möglichkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen und einfühlsam zu reagieren ist bei Menschen mit FASD vorrangig dann möglich, wenn die Situation der eigenen Wahrnehmung entspricht oder eine selbst erlebte, emotionale Erfahrung angesprochen wird.
Zum Beispiel wird ein Mensch mit FASD über den Tod eines nahestehenden Menschen informiert und erlebt die Trauer des Informierenden. In dieser Situation reagiert der junge Mensch mit, für uns angemessener Emotion. Erfolgt zeitversetzt die Beisetzung, kann es dazu kommen, dass der junge Mensch am offenen Grab steht und ein für uns „grinsendes“ Gesicht zeigt, was auf uns und die Trauergemeinde als unangemessen und empathielos wirkt. Der junge Mensch selbst leidet unter seiner eigenen Reaktion und kann sein Verhalten in diesem Augenblick nicht erwartungsgemäß anpassen. Um sowohl den jungen Menschen, als auch die Trauergemeinde in solchen Situationen zu schützen, könnte z.B. die Nutzung einer Maske hilfreich sein.

Ebenso können Situationen, die ein bedürfnisbezogenes Vorhaben unterbrechen dazu führen, dass ein Mensch mit FASD massiv verletzend und grenzüberschreitend reagiert und vom Gegenüber als extrem empathielos wahrgenommen wird. Z.B. eine Familie fliegt in den Urlaub. Auf dem Flughafen erleidet ein Familienmitglied kurz vorm Abflug einen Kreislaufzusammenbruch. Während die Erwachsenen den Sanitäter rufen, flippt der junge Mensch aus, beschimpft die Bezugspersonen und fordert sie auf, die kranke Person beim Sanitäter zu lassen und in den Flieger zu steigen. Der junge Mensch ist in diesem Augenblick nicht in der Lage die Not des Kranken wahrzunehmen und entsprechend angemessen zu reagieren. Er hat ausschließlich den Flug und die Abflugzeit im Kopf und steht nicht in Bezug zu den anderen Personen. Auch das Entsetzen seiner Familie kann er nicht wahrnehmen.

Übertragungsfähigkeit

Um Erfahrungen auf neue Situationen übertragen zu können, müssen diese als grundlegend wichtig verinnerlicht sein. Damit dies einem Menschen mit FASD möglich ist, sind klare Strukturen, Wiederholungen und Erinnerungen im Alltagsleben unerlässlich. Hierdurch ermöglichen Sie langfristiges Lernen und das Verinnerlichen von Abläufen und Regeln.
Gerade im pädagogischen Alltag, in therapeutischen Settings oder im Strafrecht bemühen Sie sich intensiv darum, bisheriges Fehlverhalten durch neue Handlungsideen zu ersetzen. Sie werden wahrscheinlich erleben, dass Ihnen der junge Mensch glaubhaft und ideenreich beschreibt, wie er in einer zukünftigen Situation handeln wird.

Beispiel: Ein junger Mensch sitzt zum dritten Mal wegen Fahrraddiebstahl vorm Jugendrichter und beteuert für alle glaubwürdig, dass er nie wieder Fahrräder stiehlt. Während der Verhandlung kommt ein Polizist in den Gerichtssaal und fragt, wem das Fahrrad gehört, dass vor dem Gericht steht. Hierauf antwortet der junge Mensch: „Das habe ich ausgeliehen…“
Der Richter sieht den jungen Menschen entsetzt an und sagt: „Das ist ja wohl nicht dein Ernst…“ worauf der junge Mensch antwortet: „…doch, sonst wäre ich zu spät gekommen.“

Die Aussage des jungen Menschen, kein Fahrrad mehr zu stehlen, war von ihm sehr ernst und ehrlich gemeint. Die Veränderung seines bisherigen Fehlverhaltens ist ihm ein echtes Anliegen. Da aber die Situation, in der er am Gerichtstag das Fahrrad mitgenommen hat sich von den vorherigen Diebstahlsituationen unterscheidet und seine Absicht in dieser Situation eine ganz andere war als zuvor, erkennt er die Situation nicht als Diebstahl, sondern als „leihen“ um vor Gericht auf jeden Fall pünktlich und gut dazustehen.

Die Übertragungsfähigkeit ist demnach abhängig von der Vergleichbarkeit der Situationen. Stellt sich diese minimal anders dar als eine vorherige, bleibt offen, ob der junge Mensch sich an die zuvor erlebte Konsequenz oder Strafe erinnert. Gegebenenfalls kommt es wieder zur Eskalation da die Situation, wie in diesem Fall, als ganz anders wahrgenommen wird und das Erarbeitete somit nicht auf die Situation übertragen werden kann.

Generalisierung

Die Generalisierung von Erlerntem ist immer dann möglich, wenn es dem Menschen gelingt, aus Erfahrungen zu lernen, Vergleichbarkeiten wahrzunehmen, Geschehnisse zu reflektieren und sich an hiermit verbundene Konsequenzen zu erinnern. Außerdem ist die Übertragung von Erfahrungen auf neue Situationen meist abhängig von einer bestmöglichen, 100%igen Vergleichbarkeit der Situationen.

Beispiel: Ein Kind lernt vorm Haus der Familie, dass es zum Überqueren der Straße zunächst auf dem Gehweg stehen bleiben muss, um sich zu versichern, dass kein Auto kommt. Das Kind lernt zuverlässig diese Regel einzuhalten. Beim Spaziergang in die Innenstadt läuft das Kind selbstverständlich auf die Straße und beachtet die erlernte Regel nicht. Auf Ansprache der Mutter reagiert es ablehnend und erklärt entsetzt: „Das weiß ich nicht, davon hast du aber nichts gesagt!““

Das Kind hat die erlernte Regel, die an der Straße vorm Haus gilt, nicht verallgemeinert und kann diese nicht auf andere Gehwege und Straßen übertragen. Ein generalisiertes Verinnerlichen hat nicht stattgefunden. Die Schulung und Verfestigung von generalisierten Abläufen, auch wenn sie sich nur minimal von vorausgegangenen Situationen unterscheiden, benötigen unsere unendliche Geduld, Wiederholung und ggf. die Kompensation von aktuell nicht erfüllbaren Anforderungen. Hier kommt ihnen als Erwachsene die notwendige Rolle des "externen Gehirns" zu.

Ein selbstverständliches Ausgehen von altersangemessenen Fähigkeiten, kann somit nicht vorausgesetzt werden und bedarf unserer besonderen Fürsorge. Im individuellen Jetzt des Alltags muss die verantwortliche Bezugsperson mit großem Einfühlungsvermögen entscheiden, welche Eigenverantwortung vom jungen Menschen erwartet werden kann.

Gerade in emotionalen Konfliktsituationen, in denen der junge Mensch zum Beispiel beschimpft wird oder negativ über seine Familie gesprochen wird und zugeschlagen hat, ist Generalisierung meist gar nicht möglich. Auch wenn der junge Mensch in Gesprächen oder in der Therapie erarbeitet und auch zugesichert hat, dass er in der Zukunft in vergleichbaren Situationen nicht zuschlägt, bleibt zu erwarten, dass er, wenn sich die Situation nur minimal anders darstellt und z.B. ein anderes Schimpfwort genutzt wird, das gleiche Fehlverhalten erfolgt, wie zuvor.

Zeit-Raum-Gefühl

Menschen mit FASD sind in jedem Augenblick vollkommen in ihr Tun vertieft und weder mit dem Vergangenen noch mit dem Kommenden verbunden. Ihre wertvolle Ressource, immer im Augenblick zu sein, stellt sie gleichzeitig vor große Herausforderungen. Meist sind sie im Augenblick fixiert, so dass Übergänge und Aufgabenwechsel nur schwer umgedacht und umgesetzt werden können. Sind Wechsel zu Aufgaben und Anforderungen, die kein Bedürfnis ansprechen gefordert, kommt es daher häufig zu Konflikten.
Zum Beispiel spielt Ihr junger Mensch am Handy. Sie teilen ihm mit, dass Sie in 10 Minuten Abendessen möchten. 5 Minuten später erinnern Sie nochmal, dass er zum Ende kommen soll. Nun sind die 10 Minuten um und Sie bestehen darauf, dass Ihr junger Mensch das Handy weglegt und zum Essen kommt. Der junge Mensch reagiert wütend, abweisend oder beschimpft Sie, dass Sie genau wissen, dass er nun spielen und nicht essen möchte. Egal welche Erklärungen Sie geben, erreichen Sie ihn nicht.

Der Kopf des jungen Menschen ist ausschließlich mit dem Jetzt-Bedürfnis (Handyspiel) voll. Um eine Eskalation zu vermeiden oder die Situation zu deeskalieren ist großer Ideenreichtum und Geduld von Ihnen gefordert. D.h. ihre Aufforderung bekommt erst Platz im Kopf, wenn dieser vom Spielen geleert ist. Ein sehr hilfreicher Ansatz kann hier die paradoxe Intervention, Umlenkung oder Ablenkung vom Bedürfnis sein. D.h. tun Sie das Gegenteil von dem, was der junger Mensch erwartet. Hier sind alle Ideen erlaubt, die im Kindeswohl sind und die für den jungen Menschen eine ernsthafte, wohlwollende Hilfe zum Ziel hat. Hier gibt es keine pauschalen Ideen. Diese sind immer individuell auf der Grundlage der Beziehung und Interaktion zwischen Ihnen und dem jungen Menschen zu entwickeln. Am besten schreiben Sie sich erfolgreiche Paradoxien auf, damit sie in Situationen, in denen Ihnen keine Idee kommt, auf Erfolgreiches zurückgreifen können. Wichtig: Das, was heute hilft, hilft morgen vielleicht gar nicht und umgekehrt.

Reagieren Sie zum Beispiel mit der Aussage: „Wenn du jetzt nicht sofort zum Essen kommst, darfst du nicht mehr fern schauen“ und ist diese Vorgehensweise häufig Bestandteil Ihrer Erziehung besteht die Gefahr, dass der junger Mensch mit FASD hieraus lernt und Ihr Handeln umkehrt in zum Beispiel „Gibst du mir keinen Döner, mache ich keine Hausaufgaben“ usw. Daher ist im Umgang mit dieser Intervention höchste Achtsamkeit geboten.

Lösungen liegen also zunächst in der Bereitschaft zur Deeskalation. Hilfreich ist auch die Flexibilität in hoher Alltagsstruktur. Beides ist für Menschen mit FASD unabdingbar und kann auch beinhalten, dass wir in der Konfliktsituation unsere Regel flexibel aufweichen und anschließend zur bekannten Regel zurückkehren. Dies kann ich bereits im Aufweichen ankündigen. Im Fortsetzen der Struktur ist dann Wiederholung, Erinnerung und klare, einfache Ansprache erforderlich.

Feste Alltagsstruktur, Wiederholung, Erinnerung und klare Ansprache sind in Konfliktsituationen erforderlich